Högis Cyberspace

Gerhard Höger-Hansens private Website

Heute gibt es wieder eine interessante Schlagzeile:

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/corona-lebenserwartung-101.html

Die Schlagzeile stellt fest, dass die Corona-Toten im Schnitt noch 9 Jahre zu leben gehabt hätten (das ist das Ende für Boris Palmer). Im Kern steht diese Tabelle:

Verlorene Lebensjahre bei Vergleich mit normaler Lebenserwartung
Bundesland Männlich Weiblich Männl. (korr.*) Weibl. (korr.*)
Bremen 15,4 7,3 14,2 6,7
Mecklenburg-Vorpommern 12,3 13,9 11,4 12,7
Berlin 12 10,5 11,1 9,6
Saarland 11,6 8,5 10,7 7,8
Hessen 11,5 9 10,6 8,2
Sachsen-Anhalt 11,4 7,6 10,5 7
Schleswig-Holstein 11,1 9,8 10,2 9
Rheinland-Pfalz 11 9,8 10,2 9
Hamburg 10,9 10,4 10,1 9,5
Baden-Württemberg 10,8 9,3 10 8,5
Bayern 10,8 9,4 10 8,6
Nordrhein-Westfalen 10,8 9,3 10 8,5
Niedersachsen 10,1 9 9,3 8,2
Thüringen 10,1 8,4 9,3 7,7
Brandenburg 9,9 10,2 9,1 9,3
Sachsen 9,8 10,2 9 9,3

*korrigiert um den Einfluss von Vorerkrankungen gemäß den Abschlägen in der britischer Studie

Klare Quellenangabe: Fehlanzeige - es wird lediglich auf eine Studie der Universität Glasgow verwiesen, welche sich auf die Daten aus Italien stützt. Die Studie ist über den Wellcome Trust veröffentlicht, was zumindest eine Nähe zur Pharmaindustrie nahelegt - was nicht schlecht sein muss, aber kann - Möglichkeiten zur Bewertung fehlen mir hier.

Eine Frage, die sich mir sofort aufdrängt: Wie kommen die auf diese Zahlen, dazu noch auf eine Dezimalstelle genau?

Eine Anekdote

Wenn man genau hinsieht, stellt man fest, dass die Studie sich im Peer Review befindet (was völlig in Ordnung ist). Es gibt momentan 13 Kommentare dazu (rechte Seite, Comments); es sind solche aus berufenem Mund, also von ausgewiesenen Fachleuten, als auch von Privatleuten dabei, aber alle sehr sachlich, soweit ich sie durchgesehen habe. Liest man die Kommentare durch, stellt man etliche erwägenswerte Widersprüche fest. Ein Beispiel möchte ich hier zitieren:

David Bernstein, George Mason University, USA
I see you have partially addressed this already, but this was going to be my comment: 
Two people who are coded with the same disease could be in vastly different circumstances? We know the virus has taken a huge toll on nursing homes.  An 82 year old with heart disease who lives in a nursing home is not similarly-situated, life expectancy-wise, to an 82 year old who is otherwise doing well and is self-sufficient. The former would assumedly be much more likely to succumb to Covid-19 than the latter. Similarly, "otherwise-healthy" people who succumb to Covid-19 can be expected to, on average, be more likely to have an undiagnosed health issue than those who don't. Is that taken into account? If neither of these are taken into account, the effect on life expectancy must be reduced.

Now, I see you've responded that this should NOT have a major effect on life expectancy. I don't see how you can be so confident. A *huge* percentage of deaths, wildly disproportionate, have been in nursing ("care") homes. This is an extremely unhealthy population. In the U.S., iirc, the average life expectancy for someone entering a nursing home is something like 18 months. You simply can't compare an otherwise healthy 82 year old with heart disease to someone whose heart disease so enfeebles him or her that they need to be in a nursing home

Ich übersetze das mal, hoffentlich ordentlich, falls Englisch nicht so Euer Ding ist:

"Wie ich sehe, sind Sie bereits teilweise darauf eingegangen, aber das wäre mein Kommentar gewesen:
Zwei Menschen, welche derselben Krankheit erlegen sind, könnten in sehr unterschiedlichem Zustand sein? Wir wissen, dass das Virus einen hohen Blutzoll in Pflegeeinrichtungen gekostet hat. Ein 82jähriger mit einer Herzerkrankung, welcher in einem Pflegeheim wohnt, ist hinsichtlich seiner Lebenserwartung nicht gleichgestellt mit einem 82jährigen, dem es gut geht und der sich selbst versorgt. Der erstere wird vermutlich sehr viel wahrscheinlicher CoViD-19 erliegen als der letztere. Ebenso kann man erwarten, dass "ansonsten gesunde" Personen, welche CoViD-19 erliegen, sehr viel wahrscheinlicher eine nicht diagnostizierte Vorerkrankung hatten als jene, welche die Krankheit überwinden. Wurde das in Betracht gezogen? Wenn beides nicht in Betracht gezogen wurde, muss der Einfluss von CoViD-19 auf die Lebenserwartung reduziert werden.

Nun sehe ich, dass Sie geantwortet haben, dass dies keinen wesentlichen Einfluss auf die Lebenserwartung haben sollte. Ich sehe nicht, warum Sie hier so sicher sein können? Ein "gewaltiger" Prozentsatz der Todesfälle, weit überdurchschnittlich, wurde in Pflegeeinrichtungen festgestellt. Dort lebt eine extrem ungesunde Bevölkerung. In den USA, wenn ich mich recht erinnere, liegt die durchschnittliche Lebenserwartung für Menschen, die in ein Pflegeheim kommen, bei um die 18 Monate. Sie können einfach nicht einen anderweitig gesunden 82jährigen mit einer Herzerkrankung mit jemandem vergleichen, dessen Herzerkrankung ihn so weit geschwächt hat, dass er in einem Pflegeheim leben muss."

Summa summarum bleibt festzuhalten, dass die Studie zumindest als "umstritten" zu bewerten ist - und keine gute Grundlage für eine NDR-eigene Statistik bildet, die ohne Angaben zu ihrer Entstehung einfach als "Wahrheit" dargestellt wird.

Mein Professor für Heizungstechnik (ich bin Dipl.Ing.(FH) der Versorgungstechnik) hat mal folgendes Beispiel gebracht (ungefährer Wortlaut, an Details kann ich mich nach über 30 Jahren natürlich nicht mehr erinnern):

Ihr müsst Euren Berechnungen misstrauen, Ihr dürft nicht einfach dem Taschenrechner glauben. Ich hatte mal einen Studenten, der hat in seiner Semesterarbeit eine Rücklauftemperatur von -5 °C ausgerechnet. Den habe ich dann gefragt, wie denn das Wasser da aus dem Rücklauf kommt, als Eiswürfel oder crushed Ice?

Für die Jüngeren: Taschenrechner waren so kleine Dinger in der Größe eines Smartphones, mit richtigen Tasten drauf und mit denen konnte man nur rechnen. Heute macht man sowas mit Excel, da kann man total komplizierte Sachen aufstellen und was hinten rauskommt, ist noch viel weniger nachvollziehbar...

Fast wia im richtigen Leben

Versuchen wir uns dem Ergebnis mal mit etwas Lebenserfahrung zu nähern. Wir haben nur zwei harte Fakten:

  1. Die Corona-Toten waren rund 81 jahre alt
  2. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 80,7 Jahren

Für die Abschätzung, wie lange jemand im Alter von 81 Jahren noch zu leben hat, braucht man dann die genauen Sterbetafeln, und da geht die Streiterei in den Kommentaren zur Studie ja schon los.

Stellen wir uns also folgende lebenspraktische Fragen:

  • wenn ich 81 bin, wie hoch schätze ich meine Chance, 90 zu werden?
  • wenn ich 81 bin und mich nicht mehr selbst versorgen kann, daher in einem Heim lebe, wie sieht es dann aus?

Ich schreibe das absichtlich in der Ich-Form, dann tut es mehr weh. Ich kann mir schon vorstellen, dass ich bei guter Gesundheit die erste Frage mit "50/50" beantworten würde. Bei der zweiten müsste ich schon ein wenig weltfremd sein, denke ich.

Fazit

Leider scheint die wichtigste Devise der offiziellen Berichterstattung nach wie vor "Angst hochhalten" zu sein. Dass der Artikel unter der Rubrik "Investigativ" steht, macht es auch nicht besser.

Bitte bedenkt dabei: "Angst essen Seele auf". Und seelenlose Menschen haben in der Mitte des letzten Jahrhunderts sehr viel Schaden angerichtet.