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Gerhard Höger-Hansens private Website

Persönliche Verortung

Der Kalender an meinem Computer zeigt den 29. Dezember 2020 n.C. Oder auch "0 n.C." oder "1 n.C." sagen die, welche das "C" mit "Corona" übersetzen.

Täglich, per Web-Benachrichtigung auch mal stündlich, flattern die Todeszahlen ins Haus. 1000 Tote am Tag, Donnerwetter. Habe ich irgendwo noch eine Benachrichtigung stehen lassen? Egal, sehen wir mal in Euromomo nach, dem europäischen Werkzeug zur Epidemieverfolgung, wie es seit einigen Jahren genutzt wird.

  2017 2018 2019 2020
Berlin
Hessen        
         

Offensichtlich sind Berlin und Hessen, die einzigen Bundesländer, welche die Euromomo-Datenbank beliefern, Inseln der Glückseligkeit. Oder verschwörerische Covidioten in den Meldeämtern unterschlagen die Zahlen einfach? Keine Ahnung.

Wir zoomen. Geht ja nicht anders. Erfreulicherweise mit 10 oder 11 Mitgliedern unseres "kleinen Chors", der Stimmbande. Mein Mailserver hatte sich mal wieder an einer nervigen Werbemail verschluckt, so dass ich die Rückmeldungen auf meine diesbezügliche Einladung nicht bekommen hatte und uns - meine Frau Ute und mich - schon mit dem Chorleiter allein da sitzen sah. Aber nein, da ist ja noch mehr Leben drin, als ich befürchtet hatte!

Eine Mitsängerin erzählt, erfahrene Krankenschwester, wie ich im letzten Jahrzehnt ihres Arbeitslebens, 2 Kinder und ich glaube auch Enkel - das ganze Programm, einen Hauch von Lebenserfahrung darf man also annehmen. Sie arbeitet nicht auf der Corona-Station, bei ihr aber ist es sehr ruhig. Es kommt halt keiner mehr mit Wehwehchen. Was wohl auch sein Gutes hat. Aus der Corona-Station kennt sie aber auch keine Alarmmeldungen. Ganz anders in der Presse, wo es ja echt schlimm zugehen muss. Man sieht es auch am Intensivregister:

Bestechend, mit welcher Präzision geplante Intensivbelegungen (OPs) offensichtlich verschoben werden, damit die Gesamtzahl der belegten Betten im einstelligen Prozentbereich konstant bleibt.

Sie - die Mitsängerin - wird sich jedenfalls impfen lassen, wie die meisten Kollegen und Kolleginnen. Meine Frage, ob sie sich nicht als Versuchskaninchen sieht, geht leider im Zoomgewitter unter. Ist ja auch egal, das muss jeder selbst entscheiden.

In zwei Tagen habe ich Geburtstag, ich bin ein Silvesterkind. Seit gestern herrscht Ausgangssperre ab 22 Uhr, was bedeuten würde, dass wir nicht mal um Mitternacht auf die Straße dürften, um mit den Nachbarn anzustoßen auf ein neues Jahr. Wir werden das wohl ignorieren, mal sehen, ob die Polizei Streife fährt, um auch den letzten Rest von Menschlichkeit aus den Straßen zu fegen. Darauf lassen wir es wohl ankommen.

Die erste Ausgangssperre meines Lebens, das sind schon spannende Zeiten.

Was erlebe ich da, jetzt, während ich sitze und atme? Das Leben hat etwas Surreales bekommen, ich schaue auf die alte Tischuhr auf dem Gläserschrank, ein Erbstück aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Würde sie jetzt, wie die Uhren Salvador Dalis, über den Rand fließen, ich würde es wohl achselzuckend zur Kenntnis nehmen.

Was ist das, eine wirkliche Gefahr, der man nur so begegnen kann? Ein entfesselter Kapitalismus im Endkampf? Die Folge lange verdrängter Fehlentwicklungen? Steckt der Westen schon im unerklärten B-Waffen-Krieg mit der expansiven Weltmacht China (die immerhin die Hongkong-Frage ganz in ihrem Sinne im Windschatten der Pandemie "gelöst" hat)? Möglicherweise steckt von allem was drin, mit Vernunft im Sinne des Gemeinwohls ist das Ganze jedenfalls nicht zu erklären, nicht auf nationaler und erst recht nicht auf internationaler Ebene (ein paar Links zum Beispiel Indien unten).

Und ich?

Ich lebe seit 23 Jahren hier. Gütersloh, eine Kleinstadt, die eben erst rechnerisch mit dem 100.000sten Bewohner zur offiziellen Großstadt wurde. Bis ins Frühjahr eine lebendige Kulturszene, ein Programmkino, nette Kneipen, zwei Musikschulen, überwiegend sehr sympathische Menschen (wie Schwaben ohne Kehrwoche und Futterneid). Kann ich unumwunden als meine Heimat bezeichnen. Oder konnte, das wird man sehen.

Ich habe mich immer als pragmatischen Optimisten verstanden. Stelle Dich auf die ungünstigste zu erwartende Entwicklung ein, es kommt immer besser und Du kannst Dich darüber freuen. Seit diesem Jahr funktioniert das nicht mehr, meine impliziten Worst-Case-Szenarien wurden oft gar übertroffen.

Ich bin, Glück oder Zufall, wirtschaftlich wohl nicht betroffen, soweit man das abschätzen kann. Möglicherweise bietet sich sogar die Chance, einen langfristigen Auftrag zu bekommen, der mich bis zur Rente oder kurz davor über Wasser hält. Von dieser Seite also kein Grund zu Pessimismus.

Auch durch meine unmittelbare Familie hat Corona zum Glück keinen Riss gezogen, da kenne ich andere Fälle. Meine Kinder sind wie ich - nach Corona-Neusprech oder LCI, wie ich in Anlehnung an die von Viktor Klemperer geprägte "LTI" schon gehört habe - wohl auch Covidioten. Das muss wohl in den Genen liegen, oder an der Schule (in meinem Fall Gymnasium Korntal, in einer Zeit, als die pietistisch geprägte Bildungsanstalt von hochmotivierten 68ern aufgemischt wurde, bei meinen Kindern die Schulen in Freiberg und Umgebung in den ersten Jahrzehnten nach der Wende).

Das Dumme ist vielleicht auch, dass ich seit über 35 Jahren meinen Lebensunterhalt damit verdiene, komplexe Systeme zu verstehen, zu verbessern und zu ergänzen, oder auch aufzubauen. Heine sagt in seinem Gedicht "zur Theleologie":

Doch der Mensch fragt stets: Warum?
Wenn er sieht, daß etwas dumm.

So ging es mir denn auch, was zu dieser Artikelserie geführt hat. Ein solchermaßen geprägtes Gehirn kann man nicht einfach abschalten. Und so bin ich froh und glücklich, dass in meiner Familie die Menschlichkeit erhalten geblieben ist. Wir uns, allen Widrigkeiten zum Trotz, weiterhin um meinen dementen Schwiegervater kümmern. Und auch mit meiner jüngeren Schwester, welche die Sache anders sieht, werden wir uns nicht in die Haare geraten - das ist der ganze Irrsinn nämlich nicht wert.

Nun ist es, wie es ist. Ich habe eine ganz gute Frustrationstoleranz, habe die Trennung von meiner ersten Frau ohne destruktiven Rosenkrieg hinbekommen und wir sind immer noch befreundet, habe eine Bruchlandung (als Pilot, mea culpa) überstanden, bin nachts einem Geisterfahrer begegnet, das Schicksal war mir bisher gnädig und im Gegenzug habe ich immer das Beste daraus gemacht. So werde ich das auch weiterhin handhaben.

Unsere große Tochter ist da, mit Familie. Zusammen sind wir vier Erwachsene, also noch "erlaubt". Und  zwei Kinder. Yano, der Jüngste, liegt auf meinem Bauch und beruhigt sich. Ist ja auch ausreichend gepolstert da. Vielleicht das letzte Mal, dass ich diese Intimität zwischen mir und einem neuen Erdenbürger erfahren darf. Jede Regung spürt man in dem kleinen Körperchen, das sich in die Arme schmiegt und - wenn es gut geht - sich entspannt und beruhigt. Zwei Herzen, ein kleines, sieben Wochen altes, und ein großes, können sich hören und spüren. Oder der Zwerg beruhigt sich nicht, warum? Hunger, Windel voll? Ich wickle den Kleinen, er fixiert mich mit seinen dunklen Augen. Lässt mich machen, ohne zu meckern. Vertraut. Lächelt gar.

Sechsmal hat das Leben mir das bisher geschenkt, zweimal auf eigene Veranlassung und nun schon das vierte Enkelkind. Was für ein Wunder das Leben ist! Immer wieder ein neuer Anfang, und bisher kann ich über das Folgende überhaupt nicht meckern. Die Pflicht ist durch, ich laufe die Kür. Keine schlechte Zwischenbilanz.

Jedes Leben, auch meines, endet mit dem Tod. Das ist unvermeidlich. Ich ende mit meinem Tod - aber eben auch nicht früher.

In diesem Sinne: Prost Neujahr!

P.S. Hier die Links zu Indien. Was einen harten Lockdown hatte, einen mit "Wumms", wie es die Bildzeitung beschreiben würde. Bitte ganz lesen, vor allem den zweiten.

https://www.spiegel.de/politik/ausland/indien-in-der-corona-krise-wie-geht-es-den-wanderarbeitern-nach-dem-lockdown-a-09eb6e9a-28aa-4f10-866e-60f2dc8c7ade

https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_88220130/indien-katastrophe-steht-erst-bevor-arzt-berichtet-ueber-corona-krise.html